Die Darlegungen beginnen im Milieu einer Berliner Hochschule im Jahre 1980 und bilden die Rahmenhandlung dieses Buches. Die Politik
der SED ist unantastbarer Maßstab aller Dinge. Das Feindbilddenken
hat Hochkonjunktur und wird sorgsam gepflegt. Rolf Bertram reist mit einer Studentendelegation in die Sowjetunion. Diese Reise
offenbart ihm Interessantes und Kurioses, bietet aber auch Anlass zu Rückerinne-rungen.
In diese Rahmenhandlung eingebettet sind frühere Geschehnisse begin-nend im Jahre 1943.
Erlebnisse, wie:
- Wehrertüchtigungslager in Hinterpommern,
- Reichsarbeitsdienst ( V-2-Kontakte und Beobachtungen von Forsch-
ungsaktivitäten der Luftwaffe in Peenemünde ),
- Spezialsegelflugausbildung mit dem Ziel Düsenjägerpilot,
- Totentanz vor Königsberg,
- erlebtes Elend der ostpreußischen Flüchtlinge auf dem Eis der Frischen
Nehrung,
- Zaungast bei der Aufrüstung von Sportflugzeugen mit Panzerfäusten
als letzte "Wunderwaffe",
- Rückzugsgefechte bei Potsdam, Werder an der Havel und weiter west-
lich bis an die Elbe,
- Gefangennahme durch die Rote Armee am Ufer der Elbe bei Ferchland
und
- das Leben „am seidenen Faden“ in der Sterbebaracke in Woldenberg/
Neumark
werden facettenreich erzählt.
Eingebettet sind weiterhin Begebenheiten der Jahre 1952 – 1979 in Struktureinheiten der sozialistischen Wirtschaft
der DDR. Die Stasi ist allgegenwärtig. Sie arbeitet hinterhältig und saugt Lügen begierig
auf.
Der Kampf gegen Engstirnigkeit und Arroganz verbohrter Staats- und Parteifunktionäre ist zäh.
Ein Minister wird erschossen. Sein Nachfolger wird durch Initiativen des seinerzeitigen Bundeskanzlers Helmut Schmidt
als angeblicher „Alt-Nazi“ entlarvt und der Fragebogenfälschung
überführt. Auch diese kurze Karriere ist beendet.
In der Hochschule wird versucht, eine Forschungsleistung zu behindern und zu bagatellisieren. Neid und Missgunst
flackern auf. Anhand der überzeugenden Erfolge durch den Abschluss von mehr als 60 Nachnutzungsverträgen, vorwie-
gend mit Kombinaten der DDR-Industrie, kommt die Fakultätsleitung nicht umhin, den Erfolg mit Schulterklopfen und Anerkennungsschreiben zu würdigen. Der Urheber und ihn unterstützende EDV-Mitarbeiter werden jedoch trickreich um
den Großteil der durch sie erwirtschafteten Prämiengelder gebracht.
Der Abschnitt „Der Anfang vom Ende“ schildert die letzten 4 Monate vor der Maueröffnung in Berlin aus der Sicht des
Erzählers.
Das Buch endet zeitlich am 9. November 1989.
Dieses Buch kann in jedem Buchgeschäft unter der
ISBN
478-3–8311–3742–8
oder im Internet bestellt werden :
Bei Google einfach eingeben: Spuren unter der Haut
Leseprobe
aus Abschnitt: „Das Schicksal nahm seinen Lauf“
. . . . . . . . . . .
In der einen Ecke des Lagers mit Blick auf die Landschaft draußen saß seit Tagen einer unserer schon recht älteren Leidensgenossen zu jeder möglichen Tageszeit. Er schaute
stets stumm und unbeweglich in die Richtung eines Bauernhofes in etwa 2 km Entfernung. Es war sein Hof gewesen und er konnte das jetzige Leben und Treiben gut beobachten. Er sprach mit
niemandem und holte sich auch kein Essen mehr. Das ging so einige Wochen und eines Tages fiel er um und war tot!
Eines anderen Tages, beim abendlichen Zählappell, schwanden mir plötzlich die Sinne und auch ich fiel um und zwar zwischen die Reihen der angetretenen Kameraden.
Ich war aber nicht tot, sondern nur besinnungslos!
Erst als ich im Ambulatorium lag, kam ich zu mir. Mir war ganz schwummrig im Kopf und ich schwitzte wie ein Bulle. Bei mir war Bajazzo, der auf Geheiß des diensttuenden Sanis
bereits meine persönlichen Sachen aus unserer Lagerbaracke geholt hatte. Es dauerte nicht lange und ich wurde abtransportiert in das Lazarett, welches gegenüber auf der anderen Straßenseite
lag.
Bajazzo hielt noch lange meine Hand und seine Augen schienen sehr traurig zu sein. Es war jedenfalls die letzte Berührung zwischen uns.
Ich sollte ihn nur noch einmal von weitem wiedersehen!
In einer fast menschenleeren Stube einer recht dunklen Baracke wurde ich von den Sanitätsträgern abgeliefert. Dort gab es auch einen zuständigen Sani, der mir Mut zusprach. Er kam des
Abends noch ein paar Mal zu mir. Mir ging es aber zunehmend schlechter. Ich musste mich mehrmals erbrechen und zwar so lange, bis kein Mageninhalt mehr in mir war. Es war nur noch ein
vergebliches Würgen von bitterer Gallenflüssigkeit.
Ich war völlig am Boden und dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Die Magenkrämpfe flachten ab und ich versank in einen Erschöpfungsschlaf.
Aber bald darauf erwachte ich schweißüberströmt und offenbar in hohem Fieber. Ich hatte schreckliche Angst! Ein paar der leeren Betten weiter zum Fenster lag auch ein Kranker, den
es offenbar noch schlimmer gepackt hatte als mich. Er fing an, laut zu schreien und zu phantasieren:
Stalin sei gestorben und sein Sarg werde hier in einer Trauerzeremonie vorbei gefahren! Radfahrer eskortierten diesen Leichenzug mit brennenden Pechfackeln. Die Decke, mit welcher der
Phantasierende zugedeckt war, habe sich im Rad der Lafette verheddert! Sie sei völlig verdreckt mit Wagenschmiere und stinke ganz fürchterlich!
Er warf seine Zudecke und einige seiner persönlichen Gegenstände um sich, stand auf, torkelte durch die finstere Barackenstube und gab mehr oder weniger schreiend weitere konfuse
und halbartikulierte Äußerungen von sich!
Ich verhielt mich ganz still, zog mir meine Decke über den Kopf und wartete ab, bis er vor Erschöpfung irgendwo im Raum liegen blieb. In den frühen Morgenstunden wurde er
abtransportiert, ich wusste nicht, wohin!
Im Laufe des Vormittags wurde ich verlegt in eine andere Baracke, die innerhalb des Lazaretts separat mit einem Zaun umgeben war. Der mich stützende Sani übergab mich einem anderen,
betrat somit nicht das Terrain der - ja, der Quarantänebaracke!
Mein Unterkunftsraum war angehäuft mit ca. 30 Mit-Kranken. Sie lagen mehr oder weniger apathisch auf ihren Strohlagern und ich kam dort mitten hinein. Die Tragweite meiner Situation
war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst!
Mir ging es weiterhin saudreckig!
Neben dem Fieber, weiteren Versuchen mich zu erbrechen und beginnendem Durchfall übermannte mich eine unsagbare Schlappheit. Der Durst quälte mich sehr, aber Appetit auf die kärglichen
Mahlzeiten hatte ich keinen. Ich versuchte, mich immer auf die Latrine zu schleppen, wenn es mich drängte, oben oder unten ‘was von mir zu geben!
Anderen gelang es nicht und von Säuberung durch das Sanipersonal war wenig zu spüren. So lag ständig ein Gestank in der Luft, dessen Schweißgeruchskompo-nente mir noch wie Kölnisch
Wasser erschien.
Schlimm war der Gemütszustand in dieser Atmosphäre. Wenn bloß nicht das hohe Fieber sowie die abwechselnden Schwitz- und Schüttelfrostanfälle gewesen wären!
Daran, dass ich Medikamente bekam, kann ich mich nicht erinnern. Besonders nachts war es schlimm, auf die Latrine zu gelangen. Der recht breite Mittelgang der Baracke schien so zu
schwanken, dass ich mich auf einem Fischlogger bei Windstärke 10 wähnte.
Eines ganz frühen Morgens, als ich wieder ‘raus musste, bekam ich die Tür zum Barackengang nicht auf. Irgendein schweres Hindernis stemmte sich mir von außen vehement entgegen. Ein
Sani kam mir zu Hilfe. Wir fanden einen Mitpatienten sitzend vor, der sich am Drücker unserer Stubentür draußen auf dem Korridor erhängt hatte!
Es war schauerlich!
Zu trinken bekamen wir wenig, es wurde Trinkbecherweise verteilt. Einige Sanis gaben sich große Mühe, uns die Kartoffelsuppe und auch das manchmal zur Ausgabe gelangende ausgekochte
Rindfleisch schmackhaft zu machen.
So ging es etwa schon 14 Tage.
Die Wirklichkeit nahm ich nur noch schemenhaft und wie im Traum wahr! Der permanente Dämmerzustand hielt mich aber nicht davon ab, hin und wieder ra-tionale Gedanken zu
fassen.
Es war ein ständiges Kommen und Gehen in unserer Krankenstube. Diejenigen, die nicht mehr bei Sinnen waren, wurden ‘rausgeschleppt. Neue Fiebernde wur-den an deren Stelle in
die plattgelegenen und kaum ausgewechselten, manch-mal arg verschmutzten Strohreste auf die roh zusammen gezimmerten Massenpritschen gelegt.
Diese Liegestätten waren aber noch Gold gegenüber jenen in den Sterbezim-mern. So wie man die Gestorbenen dort aus ihrer Matratzengruft hob, wurde die Liegestatt nur mit Chlorkalk
bestreut und die meist schon Weggetretenen dort in diese Brühe zum endgültig letzten Seufzer deponiert.
Es mag inzwischen Mitte Juli geworden sein und neben dem permanenten Gestank machte uns allen auch die große Hitze zu schaffen. Unser Krankenzim-mer war somit das reinste Eldorado für
alles erdenkliche Ungeziefer.
An sich waren Fliegen noch die harmlosesten, aber in diesen Mengen wurden sie zur auffälligsten Belastung für alle. Sie befielen alle Kranken so dermaßen, dass sie zu Hunderten auf
Mund, Nase, Augen und Ohren saßen. Vielfach waren diese Körperstellen nur noch als schwarze wimmelnde Flecke wahrnehmbar.
Aber auch nach dem Erbrochenen und dem Kot derjenigen, denen dieser manchmal aus der Hose rann, waren diese anhänglichen, meist grün- oder bläu-lich -
perlmuttschimmernden Fliegentierchen ganz wild!
Sie feierten die reinsten Orgien!
Da erinnerte ich mich an mein kleines schwarz-braunes seidenes Damen-tuch, welches ich in Ferchland so ganz durch Zufall und aus einer Laune >du kannst es ja ‘mal
gebrauchen< von einem Gartenzaun gepflückt hatte. Dieses fingerte ich aus dem schmalen Hohlsaum meiner Fliegerjacke und legte es mir stets aufs Gesicht. Somit konnte ich gut atmen,
hielt mir aber die gierigen Flie-genschwärme vom Kopf fern.
Ich musste natürlich schwer auf der Hut sein, dass es mir nicht geklaut wurde. Es war mein Ein und Alles zu dieser Zeit, denn so mancher meiner Mit-Patienten, der noch zu rationalem
Denken und Empfinden fähig war, erkannte den Wert eines solchen Tuches. Nachts zum Schlafen lag es stets unter meinem Kopf!
Aber nicht nur auf der Krankenstube war die unerwünschte Fauna so intensiv und munter, sondern auch die Latrine schien überzuquellen von Leben! Wenn man auf den bretternen Brillenlöchern
über den von uns abgesonderten Breiig- und Flüssigkeiten saß, krochen einem von unten Prachtexemplare von Madenraupen auf den Blanken! Diese waren vollgefressen bis zum Platzen! Sie besaßen einen
Durchmesser von etwa einem Zentimeter und eine Körperlänge von ca. fünf Zentimetern. Dazu hatten sie ein ganz neckisches, ca. drei Zentimeter langes dünnes Schwänzchen!
Nur durch Abkratzen einer gewissen Distanz der Sitzunterseite von innen, ringsherum aus dem Sitzloch heraus mittels eines mitgebrachten Stöckchens oder eines länglichen Steines, konnte
man diese anhänglichen Tierchen eine Weile von seinem Hintern fernhalten!
Solche Tierchen hatte ich vorher noch nie gesehen und unter normalzivilisierten Bedingungen bekäme man allein vom Anblick her schon das Kotzen!
Uns aber machte dies nach all’ dem Erlebten kaum mehr etwas aus!
Ob diese Prachtexemplare aus dem Sowjetreiche stammten und schon bis hier her vorgedrungen waren?
Ich merkte, dass ich immer schwächer wurde und die Dämmerungsperioden am Tage wurden immer länger. Wenn ich auf der Seite lag, merkte ich, wie meine seitlichen Beckenknochen
scheinbar aus dem Leib traten und auf der hölzernen Liegeunterlage schmerzhaft drückten. Beim Befühlen meines Körpers spürte ich auch, dass ich nur noch wenig Fleisch auf den Rippen und Schenkeln
hatte!
In dieser Zeit des physischen aber auch psychischen Wahrnehmens meines körperlichen Zustandes spürte ich aber ganz langsam so etwas wie Hunger!
Das angebotene Essen, wenn auch nur recht wenig, rutschte auch wieder!
Ein paar Tage später spürte ich, wie mein Kopf klarer wurde, ein Zeichen dass das Fieber im Sinken war. Es waren fast alles neue Gesichter um mich herum. Die meisten der
bisherigen haben wohl den Weg über die Sterbezimmer genommen.
Cirka eine Woche war ich fieberfrei. Ich konnte zunehmend rationale Gedanken fassen, das Essen rutschte immer besser und vor allem blieb es drinnen! Deshalb wurde ich verlegt in das
Zimmer gegenüber, wo die Genesenden hausten.
Der Raum war ebenso groß wie das eigentliche Krankenzimmer. Während in jenem immerhin ca. 30 Personen hausten, war dieses zu meiner Zeit nur mit mir und drei weiteren Kameraden
belegt.
Ich war noch recht schwach, aber frohen Mutes, diese Talsohle am Rande des physischen Daseins erfolgreich durchschritten zu haben. Jetzt wurde mir auch so richtig bewusst, dass ich mich
hauptsächlich mit dem Seidentuch über dem Gesicht vor der ständigen Gefahr der Re-Infektion durch die Fliegenschwärme schützen konnte!
Welch’ eine schicksalhafte Fügung, dass ich seinerzeit so ganz nebenbei und instinktiv kurz vor der Gefangennahme nach diesem unscheinbaren Tüchlein griff. Dieser Griff und das
Bewahren jenes Stückchen Seide vor Fledderungen bis zu diesem Zeitpunkt, war im wahrsten Sinne des Wortes meine Lebensrettung!
Es war der sprichwörtliche seidene Faden, der mich am Leben erhalten hat!!!
Eines Mittags saßen wir auf rohen Holzbänken vor dem Eingang an der Stirnseite unserer Krankenbaracke und empfingen bei schönstem Sommerson-nenschein unsere Mittagsportionen, die
aus einem Kübel in unsere Kochgeschirre gefüllt wurden. Es waren aber nur die Genesenden aus unserer Stube und noch einige aus einer Nebenbaracke des Quarantänekomplexes.
Wir fingen an, mit Appetit zu essen, denn ich konnte sogar Fettaugen erkennen und bei manchem plumpsten offenbar Fleischklumpen beim Einfüllen in den Napf.
Wie ich da auch so emsig in meiner Suppe rührte und den Löffel füllte, prangte darauf ein selten gekannter Fleischklumpen!
Mann, dachte ich, das ist ja der reinste Lotteriegewinn!
Etwas skeptisch wurde ich allerdings beim näheren Hinschauen! Dieses appetitliche Stückchen Fleisch hatte nämlich vier kleine Beinchen, ein spitzes Köpfchen und ein kleines
Schwänzchen!
Ja, durchzuckte es mich, es war eine mitgekochte Maus! Ich fasste sie ans Schwänzchen, machte meine Mit-Esser mit humorvollen Äußerungen darauf aufmerksam und ließ sie hochhaltend
im Gullygitter auf dem Hof verschwinden.
Im Nu hatte ich ein vielstimmiges Entsetzen ausgelöst und die meisten schickten sich an, ihre Essnapfinhalte der verschwundenen Maus nachzuschütten!
Welche Beweggründe waren es, mich nicht zu ekeln? Wo ich Zeit meines noch so kurzen Lebens stets recht mäklig war und manche für meine Mitmenschen schmackhaften Lebensmittel
verschmäht hatte, blieb unergründet!
Ich jedenfalls aß aus meinem Napf die Suppe mit dem unmittelbarsten Kontakt zum mitgekochten Kleinnager weiter, als sei nichts gewesen. Darüber hinaus bat ich so manchen
spontanen Essensverweigerer, seine Suppe nicht zu vernichten, sondern mir noch als Zweit- und Drittportion zu überlassen. So hatte ich mich mal wieder so richtig satt essen können mit
nahezu drei seinerzeitigen Normalportio-nen.
Offenbar hatte mein instinktiver Lebenswille über den unter normalen Umstän-den entstehenden Ekel gesiegt! Sicher hat auch dazu unterschwellig die formal-rationale Hoffnung auf die
restlose Abtötung aller Bakterien und Krankheitskeime durch den Kochprozess einiges beigetragen. Vielleicht kam noch mein Trotz hin-zu und auch der Triumph, dem Tod noch einmal von der Schippe
gesprungen zu sein!
Es ging weiter aufwärts mit mir, ich hatte aber keine Kondition. Ich ermüdete sehr oft und schlief noch recht viel.
Das Elend auf der anderen Seite und am Ende des Barackenganges nahm jedoch unerbittlich seinen Lauf. Nicht selten fanden wir morgens in den durchgehenden, aus Betonsteinen
bestehenden Waschrinnen der Mannschaftswaschräume spärlich bekleidete oder völlig entkleidete Tote oder Sterbende. Sie hatten sich offensicht-lich nachts vor lauter Durst noch dorthin
geschleppt, um aus den Wasserhähnen zu trinken.
Dabei stammte dieses Waschwasser aus einem nahegelegenen Teich, welches in verrosteten Leitungen hierher gepumpt wurde. Niemand wusste, wie viele Tiere darin verendet waren. Ich
hatte immer strikt darauf geachtet, dass dieses Wasser nicht so nahe an den Mund kam!
Jetzt sah ich auch öfter die Transporte in die Sterbezimmer und auch jene aus ihnen hinaus. Die erbarmungswürdigen Leichen waren vielfach nur noch die reinsten Skelette, von denen
so ca. acht Stück auf den hierfür in Dienst gestellten überdimensionalen Handwagen passten. Diese elende Fracht wurde von zwei ziehenden und zwei schiebenden Personen zum Einbuddeln gefahren. Solche
völlig unzeremoniellen Trauerzüge sahen wir meist am Fenster unseres Zimmers, welches den Blick unmittelbar auf den Stacheldrahtzaun des Lazaretts freigab, draußen vorüberziehen.
Ein paar hundert Meter weiter, am Rande eines Waldstücks, sollen die armen Teufel vergraben worden sein.
Sehr wahrscheinlich war jedoch, dass die dort hin und wieder gesetzten schlichten Birkenastholzkreuze nicht lange an sie erinnerten. Zu vermuten war indes, dass sie schon an den
nächstfolgenden Abenden als willkommenes Brennholz für wärmendes Biwak-Feuer zur Nacht missbraucht wurden. Dafür sorgten vagabundierende Gruppen ehemaliger Fremdarbeiter, sich eine neue
Bleibe suchende heimatentwurzelte Polen oder von auf der Durchreise befindliche Rotarmisten!
Dann hieß es, eine Ärztekommission werde uns begutachten, ob wir noch von Wert für die Wiedergutmachung im großen Sowjetreiche seien, oder ob man uns schweren Herzens gehen lassen
solle!
Anlässlich der ersten Untersuchung war sich die schwarzhaarige, streng gescheitelte, sehr selbstbewusste Armeeärztin nicht sicher, in welche Kategorie ich passte. So wurde ich
noch eine Woche zurückgestellt und musste dann wieder antanzen! Vielleicht musste auch erst vorgesichtet und geprüft werden, ob die Plankontingente der Entlassungszahlen nicht überschritten
würden!
Dann fiel die Entscheidung, dass ich nach Hause entlassen werde!
Soll nun endgültig ein Schlussstrich gezogen werden nach all’ den schrecklichen Geschehnissen und Gefahren, denen ich in meinen so jungen Jahren ausgesetzt war?
Es war kaum zu glauben!
Das Datum vom 23. August 1945 wurde auf mein Entlassungsdokument ge-stempelt und mit ihm das entscheidende Siegel der sowjetischen Streitkräfte!
Die Probleme waren damit aber noch nicht vorüber.
Ich wog 48 kg bei meiner Größe von 1,81 m und 163 km lagen zwischen Woldenberg/Neumark und der Oder, wo das jetzige Deutschland erst begann. Mit Lkw wurden nur akut Verletzte und
Amputierte gefahren, hieß es. Gesehen habe ich aber einen solchen Transport nie! Ich Klappergestell wurde jedenfalls für marschtüchtig erachtet!
Na, dann Prost!
Aus unserem und wahrscheinlich noch aus anderen benachbarten Lagern wurden Marschgruppen auf den Weg geschickt, mit einem Offizier nebst 5 Muschkis als Bewachung und Schutz! In fünf
Tagesetappen führte der Weg über eingerichtete Verpflegungsstellen bis zur Oder.
Ich konnte dieses Tempo jedoch nicht lange durchhalten, musste mich zurück-fallen lassen. Ein ebenso schwacher Kamerad aus Hamburg und ich waren nun auf uns selbst gestellt
und erreichten nach einigen abenteuerlichen Erlebnissen im russisch/deutschen Niemandsland die Oder erst nach acht Tagen.
Vier Tage vor meinem 18. Geburtstag war ich bei meinen Eltern und es begann für mich ein vom wahrlich gnädigen Schicksal neu geschenktes Leben!